Für den 7. Workshop der Forschungsgruppe Popkult60 kam am 16. Januar 2020 Frank Kelleter, Professor für Nordamerikanische Kultur und Einstein-Professor für nordamerikanische Kulturgeschichte am John-F.-Kennedy-Institut der Freien Universität Berlin an die Universität des Saarlandes. In seinem Vortrag sprach er von “Pseudo-Ereignisse und Serienkunst: Nico zwischen La Dolce Vita und Andy Warhols Factory”
Am Beispiel der Karriere und der Biografie von Christa Päffgen, dem ersten deutschen ‘Supermodel’, die subsequent als ‚Nico’ in Wahrhols Factory und der Band Velvet Underground zu einer Ikone der Pop-Avantgarde wurde; und anhand des Films ‘La Dolce Vita’ (1960) von Federico Fellini, in dem Nico eine Nebenrolle spielte, zeigte Prof. Kelleter eine Deutungsgeschichte der Titelbegriffe des Workshops auf: ‘Event, Serialität, Unterhaltung’. La Dolce Vita wurde im selben Jahr veröffentlich wie Jean-Paul Sartres ‘Critique de la Raison Dialectique’). Der Film, der die Erlebnisse des Gesellschaftsreporters Marcello, gespielt von Marcello Mastroianni, und seines Fotografen Paparazzo (der namensgebend für die entsprechende Bezeichnung von Sensationsfotografen wurde) in der Partyszene der zeitgenössischen Stars in Rom begleitet; ähnelt zum einen einem Fresco, zum anderen einer Illustrierten, einem wichtigen Unterhaltungsformat in den 60er Jahren: Alle drei zeigen eine unerschöpfliche Fülle von Bildern und Informationen auf einmal, die der Betrachter in ihren Details nicht gleich wahrnimmt. In La Dolce Vita, Marcello eilt von Episode zu Episode, von Ereignis zu Ereignis und bebildert, was Daniel Boorstin im Folgenden 1962 als ‘Pseudo-Ereignis’ bezeichnen soll. Ein geplantes, organisiertes Event, das dem Selbstzweck, der Vermarktung und seiner eigenen Reproduktion dient. Nicos Auftritt im Film – nach etwa 2 Stunden – ist Teil der letzten Episode bevor Marcello sich komplett in den Pseudo-Ereignissen der Celebrity-Welt verliert. Ihre Stimme und Sprache in dieser Szene, ein kontextloser, monotoner, deutscher Kauderwelsch, antizipiert bereits Nicos spätere Auftritte in der Musikavantgarde einer transnationalen, globalen Künstlerwelt, geprägt von sozialer und sexueller Freizügigkeit. Trotz des kritisch-negativen Untertons war der Film sehr populär. R. Dyer konstatierte dem Film eine damals außergewöhnliche Diversität: In La Dolce Vita wurden erstmals Homosexuelle ohne negative Konnotation im Film gezeigt. Ähnlich verhielt es sich mit nicht-weißen Figuren. Die Modernisierungsgeschichte des Films ist gleichzeitig eine Verfallsgeschichte. Außerdem steht die starke Präsenz von Amerikanern in Film für eine Amerikanisierung die gleichzeitig eine Entertainisierung ist. Die Liberalisierung im Film, die mit der Entertainisierung einhergeht, ist ebenso eine Kolonialisierung und eine Objektisierung – beispielsweise von zahlriechen Frauenkörpern. In den 50er/60er Jahren war der Status von Celebrities eine Neuheit, es handelt sich quasi um ein humanes Pseudo- Laut Boorstin war es ein Novum, den Menschen als denjenigen zu betrachten, der dafür sorgt, dass Dinge geschehen, im Gegensatz zu Gott, dem Erschaffer von Ereignissen, hier ist er jedoch medienphilosophisch von Heideggers Semantik des Ereignisses geprägt. Sartres bereits erwähnte Serialitätstheorie ‘Critique de la Raison Dialectique’, die sich bemüht, den Existenzialismus mit dem Marxismus zu versöhnen, erklärt Serialität als ‘Subjektivierung getrennter Individuen in Kollektionen, jedoch ohne Träger kollektiver Praxen zu sein.’; und als ‚Ohnmachtsbeziehung, (die) …in Wirklichkeit … eine verdinglichende Beziehung (ist)’. Individuen werden austauschbar. Die Formation der Serie simuliert Ereignishaftigkeit. Damit ist sie keine Praxis, sondern ein Einfügen in eine vorhandene Struktur, eine Pseudo-Wechselhaftigkeit, die austauschbar macht. Es entsteht das Oxymoron der praktisch entehrten, passiven Aktivität. Im Vergleich hierzu ist ebenso alles an den Filmfiguren falsch (der Künstlername, die Haare, etc. – sowohl im Film, als auch in der Realität). Fellini inszeniert den Bruch als Nichtübereinstimmung, beispielsweise anhand von Sonnenbrillentragen während der Nacht. Es stellt sich die Frage ob hinter dem Blick ein echtes menschliches Gesicht steckt. Während Fellini hier noch nach dem echten Blick eines echten Gesichts suchte, wurde Nico im Kontext von Velvet Underground und Andy Warhols Factory in Serie produziert. Im Gegensatz zu Fellini, dessen Bilder Geschichten erzählen sollten, produzierte Warhol Bilder von Bildern und hebt somit die ontologische Grenzziehung in ihrer Fundamentalität auf. Warhols Serialismus macht keinen Unterschied mehr zwischen Massenkonsum und endlosem Selbstserialismus (was verdeutlicht wird, wenn man die Kosten eines Siebdrucks in Betracht zieht). Das Cover des ersten Velvet Underground Albums stellt die Gruppe als ‘Andy’s Velvet Underground’ vor, die Gruppe wird ebenso zum Produkt, wie die Schallplatte und auch Nico, die als serielle Figur in die Factory eingeht, als ‘neue Edie’. Ursprünglich wurden the Velvet Underground und ihre Musik al seiner von Andy Warhols Hoaxes betrachtet – man vermutete ‘Pseudo-Rock’ ähnlich Warhols ‘Pseudo-Art’ (vgl. Warhols berühmte Campbells Soup Cans), was wiederum auf das von Boorstin beschriebene Pseudo-Event’ verweist. Die Produktions- und die Rezeptionsebene durchdringen sich gegenseitig. Ziel der Shows war ein paradoxer Effekt eines ‘Live Movies’, des ‘total Environments’ in Echtzeit. Andy Warhols Filme waren nicht kritisch, aber auch nicht unterhaltsam, daher war jegliches vitalistische Verständnis entfernt. Spätere Konzerte der Velvet Underground muten wie objektive Versuchsanordnungen an, innerhalb derer die Band die Bühne verlässt, während Technik und Sound weiterlaufen.Verwendete Störelemente und auch frühe Konzerte der Velvet Underground in ihrer elektronisch totalisierten Umwelt mit SM- und Drogeneinflüssen. Die Bondage-Aesthetik der Factory wurde auf die Velvet Underground übertragen, Leder, Samt und Sonnenbrillen symboliseren Begehren und Sex, aber auch gleichzeitig Distanz und urbane Blasiertheit. Warhols Medientheorie, zusammengefasst zu ‘Ill be your mirror’ als Song vermarktet, war, dass die Mitglieder der Factory und der Velvet Underground lebende Leinwände, Reflektoren sein sollten, aufhängbereit, aber unempfindlich. Während sie eine permanente Haltung gelebter Krise an den Tag legten, waren Ihre Liedvorträge cool und ungerührt, was den Ausspruch ‘Cool Confrontation’ prägte. So stand Nico, die den Sound des ersten Albums entscheidend prägte, meist regungslos auf der Bühne, ebenso wie ihre Stimme unemotional blieb. Sie singt ebenso, wie Andy Warhol spricht: monoton. Der Kontrast aus Fremdheit, Abstand, Verlorenheit und Hingabe, verweist bereits auf Nicos spätere Biographie. Die frühen Velvet Underground sind in ihrem Stil nüchtern und wutfrei (ganz anders als die Punks, die später von ihnen inspiriert werden sollten). Ihre musikalische Praxis war stark reflexiv, sozusagen eine serielle Selbstreflektion.Die Band stand den Harmonisierungsidealen der 60er Jahre (besonders der Westcoast Hippies) von Love and Peace feindlich gegenüber (‘I hate this Love-Peace shit’). Nicos folgende Soloalben führen sie in immer tiefere Selbstreflektion, in eine Spirale gelebter Filme wie ‘Chelsea Girls’ weisen Parallelen mit Velvet Underground auf, die raue und rohe Filmtextur, der Sound, die Empirik, Grausamkeit und der halbfiktive Inhalt. Das serielle System beobachtet sich selbst. Die Krise der 60er Jahre war, dass man sich noch in der Nachkriegszeit befand. Nico war im ausgebombten Deutschland als Christa Päffgen aufgewachsen, als entferntes Mitglied der Kölner Brauereidynastie Päffgen, die sie verleugnete. Über Ihren Vater, den sie nie kennengelernt hatte, erfand Sie eine Vergangenheit in der Resistenz gegen den Nationalsozialismus, die sie später so auch ihrem Sohn Ari erzählte. Nico erfindet als Kontrast dezidiert nichtdeutsche Biografien für sich selbst. Sie wird zur ‘Mistress of the destructive One-liner’. Die 70er Jahre vergehen gänzlich im Dienste der Beschaffung von Heroin, sie gibt 1000 Konzerte, wobei sie einige abbricht, gelegentlich nicht erscheint, oder ihren Text vergisst. In den 80er Jahren tourt sie erneut. Von ihrer Band verlangt sie Heroinkonsum, ihr Blick ist leer, sie möchte keinen Besitz haben – außer Heroin. Als Sohn Ari mit 19 Jahren zu ihr zurückkommt, fixt sie auch ihn an, nach einer Überdosis liegt er lange im Koma. Später beschreibt er die Beziehung zu seiner Mutter in ‘L’Amour n’oublie jamais’. 1988 stirbt Nico auf Ibiza an einem Hitzschlag. Es finden sich merkwürdige Parallelitäten mit anderen bekannten deutschen Frauen der Nachkriegsperiode, wie bspw. Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Romy Schneider. Alle verließen oder richteten sich gegen das postfaschistische Deutschland in dem sie erfolgreich waren. Alle 4 Frauen starben vor Ihrem 50. Geburtstag. Eine Serialität der fortgesetzten gelebten Krise?
Julia Wack